Kai-Uwe ist Pfarrer in der Evangelischen Kirche von Westfalen.
Kai-Uwe Schroeter
GLAUBEN ALLE MENSCHEN AN GOTT ?
Die Mehrheit aller Menschen glaubt an Gott. Das behaupten zumindest Umfragen und Statistiken. Auch wenn die Religiosität in manchen Ländern wie beispielsweise in China unklar und schwer zu bewerten ist, die Experten gehen weltweit von über 70 % aller Menschen aus, die an Gott glauben. Die Zahl lässt sich aber nur schätzen.
Für Deutschland gibt es genauere Ergebnisse, weil jährliche Umfragen durchgeführt werden. Im Jahr 2024 waren es 67 % aller Menschen in den westlichen Bundesländern, die an Gott glaubten, in den östlichen waren es nur 25 %.
Sind diese Umfragen aussagekräftig? Ja und Nein. Denn spitz gesagt, müsste man für eine Antwort auf die Frage, ob man an Gott glaube, wissen, wer Gott ist. Oder zumindest, was man unter Gott versteht. Denn es gibt einen großen Unterschied im Glauben an einen persönlichen oder an einen unpersönlichen Gott. Mir sagen viele Menschen im Gespräch, einen unpersönlichen Gott könnten sie sich durchaus vorstellen, aber mit einem persönlichen Gott hätten sie ihre Schwierigkeiten.
Würden wir eine Umfrage starten: "Glaubst du an die Freiheit?" Dann würden viele antworten: "Was verstehst du unter Freiheit?" Auf die Frage "Glaubst du an Gott?" müsste jeder antworten: "Was verstehst du unter Gott?" Und damit sind wir auf ein Problem gestoßen. Denn genauso wie es eine Freiheit gibt, die ich meine, gibt es einen Gott, den ich meine.
Bevor wir irgend etwas Konkretes über Gott denken und sagen, sollten wir uns mit einem Theologen befassen, der vor über 200 Jahren in einer scheinbar aufgeklärten und gottlosen Zeit zum Denker des Unendlichen wurde: Friedrich Schleiermacher.
Schleiermacher griff in seiner frühen Wirksamkeit die Gedanken Spinozas auf, die einen pantheistischen Zug trugen. Spinoza glaubte, dass Gott die Summe der natürlichen und physikalischen Gesetze des Universums ist. Ich empfinde wie Schleiermacher, dass dies ein richtiger Gedanke ist. Die Ehrfurcht vor dem großen Ganzen ist für den frühen Schleiermacher das Wesen der Religion. Wir Menschen dürfen Teil des großen Ganzen sein.
Den Fehler im Denken der großen Theologen früherer Jahrhunderte sehe ich in ihrem Ausschließlichkeitsdenken. So war für Spinoza klar, dass er mit seinen Gedanken den Glauben an Gott als ein individuelles Wesen ablehnte. Aber so klar empfinde ich diese Alternative heute nicht. Höchstens wenn ich mir Gott als einen Opa im Himmel mit Bart vorstelle. Ich sehe bei Schleiermacher, dass er über Spinoza hinaus geht. Er nimmt dessen Gedanken auf und verbindet sie mit der Vorstellung eines persönlichen Gottes. Und der Mensch fühlt sich groß, weil er Teil dieses großen Ganzen sein darf.
Warum sollte Gott, wenn er in allem ist, nicht auch personale Strukturen und Verhaltensweisen ausbilden können? Sehe ich mir die neuronale Aktivität eines menschlichen Gehirns an, würde ich auch nicht auf die Idee kommen, dass dieses Gebilde eine Person ist. Trotzdem reden wir bei der Aktivität im Gehirn eines Menschen von einer Persönlichkeit. Ebenso schließt die schöpferische Tätigkeit Gottes im gesamten Universum keineswegs die Ausbildung einer Persönlichkeit aus.
Gott ist unpersönlich und persönlich. Ein Widerspruch? Für das moderne Denken meines Erachtens nicht. Und die Zahl derer, die an einen Gott glauben, ist größer als die Zahl derer, die mit den Glaubensvorstellungen einer bestimmten Tradition ringen.
Quelle: STATISTIKA
„Woran du nun ,sage ich, dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott.“
Martin Luther
Großer Katechismus
kann an allem hängen. Woran ich es hänge, dazu gehe ich eine Bindung ein. Wenn ich mein Herz an etwas anderes hänge als Gott, gehe ich eine Bindung ein, die der Bindung an Gott entspricht. Ich hänge mich dann an einen Ersatz-Gott, einen Götzen. Das kann Geld und Gut sein, Martin Luther bezog sich aber auf das 1. Gebot, das da sagt: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Im Umfeld des Volkes Israel gab es viele Götter und Götzen.
Existieren diese Götter und Götzen? Objektiv betrachtet wahrscheinlich nicht. Aber subjektiv betrachtet sieht die ganze Sache viel ernster aus. Götter existieren für mich, wenn ich mein Herz an sie hänge. Auch Gottesvorstellungen können anfangen, für mich zu einer Realität zu werden, weil die Bindung an sie mich in eine Beziehung zu ihnen stellt. Sie haben Macht über mich, weil ich ihnen Macht zugestehe. So können in meinem Kopf auch neue Götter entstehen. Und: Hat eine Vorstellung, die Macht über mich gewinnt, nicht schon dadurch eine gewisse Form von Realität?
Wir existieren als Menschen nicht als einzelne Individuen, sondern immer als Gemeinschaften, mal in großer Form oder auch in kleinerer. Deshalb gibt es naturgemäß nicht nur einzelne, individuelle Vorstellungen von Gott, sondern auch kollektive. Die individuelle Identität ist immer sozial eingebettet. Wir reden von kollektiven Identitäten. Es gibt solche Überzeugungen, die das Göttliche betreffen. Solche Überzeugungen sind Bindungen. Götter und Götzen haben in dem Maße Macht in einer Gemeinschaft, in dem ihnen Macht zugestanden wird.
Die Vorstellung von einem Gott ist etwas sehr Subjektives. Aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen und meines eigenen Denkens mache ich mir ein Bild von seinen Eigenschaften und versuche sie, mir in einem plausiblen Zusammenhang zu beschreiben. Niemand ist im Nachdenken über Gott allein auf der Welt, ich bin eingebettet in eine Gemeinschaft, eine Familie, eine Kirche, eine Religionsgemeinschaft. Dabei nehme ich Gotteserfahrungen anderer Menschen auf, lese alte überlieferte Schriften, auch solche, die mit einem besonderen Anspruch von Offenbarung einhergehen.
Die persönlichen Gottesvorstellungen stehen alle unter dem Verdacht einer „Projektion“ meines Denkens. Spätestens seit Ludwig Feuerbach wird Gott als Produkt eines Wunschdenkens und Religion als die Entzweiung des Menschen mit sich selbst betrachtet. Nach dieser Weltanschauung existiert Gott in jedem Fall nur im Denken. Der Verstand setzt sich Gott als ein ihm entgegengesetztes Wesen gegenüber, wie verschieden er sich daran auch abarbeiten wird.
Den philosophischen Streit darüber würde ich heute zu den Akten legen. Es bedurfte nicht zuletzt der philosophischen Richtung des Existentialismus, die mit Sören Kierkegaard ihren Anfang nahm, um in der Subjektivität nicht etwas Relativierendes zu sehen, sondern den Ort der Wahrheit selbst - und natürlich den Ort der Unwahrheit. Jedenfalls ist nicht mehr eine vermeintliche Objektivität, sondern die Subjektivität der Ort der Entscheidung darüber.
Heute ist der philosophische Gedankengang um eine entscheidende Erkenntnis zu erweitern: der Physik. Gedanken sind lokalisierbar, sie sind Energie. Als Gehirnströme sind sie Teil des elektromagnetischen Spektrums, haben Anteil am Welle-Teilchen-Dualismus und vielleicht sogar an quantenphysikalischen Prozessen. Der Gottesgedanke hat zum ersten Mal eine physikalische Realität. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Wissenschaft auch einzelne Gedanken lokalisieren kann.
Ist meine Realität Teil einer anderen Realität? Ist die messbare Realität meines Denkens Teil eines anderern Prozesses? Ist mein Denken das Produkt eines göttlichen Bewusstseins? Bin ich eine Projektion Gottes?
Wenn ja, so ist der Inhalt des Glaubens die Umkehrung der Formulierung von Feuerbach. Nicht Gott ist eine Projektion meines Denkens, sondern ich bin, einschließlich meines Denkens, eine Projektion Gottes.
Nehmen wir einmal an: Gott ist nicht ein Inhalt meines Bewusstseins - sondern ich bin ein Ergebnis des Bewusstseins Gottes. Nicht ich denke Gott, sondern Gott denkt mich.
Wie bei der sprichwörtlichen Frage, ob zuerst die Henne oder das Ei da waren, ist der Zirkel gedanklich nicht auflösbar. Gott ist eine Projektion meines Denkens, weil mein Denken eine Projektion des göttlichen Bewusstseins ist.
Und mehr noch: Als Menschheit sind wir Teil einer Entwicklung, die das gesamte Universum umfasst.